Die Gemeinschaft der genetischen Risikofälle

Von der Diabetes zur Mukoviszidose: Wie sich Kranke zu Opfergruppen zusammenschließen

Von Sander Gilman

Artikel

Arbeitgeber in den USA lassen inzwischen ein Viertel ihrer potenziellen Arbeitnehmer genetisch auf alle möglichen Erbkrankheiten hin überprüfen, um Risikofälle aus ihrem Versicherungspool zu eliminieren. Das Weitergeben solcher Informationen schafft eine neue Kategorie von Stigmatisierten: die "potenziell Kranken". In einer Gesellschaft, die "Gesundheit" als Norm definiert, ist mit der Identifizierung eines solchen Risikofalls eine ganz klare moralische Wertung verbunden. Krank sein ist "unnormal". Jemanden als nicht normal zu bezeichnen, ist ein Werturteil, das den Betroffenen die Kontrolle über ihr eigenes Leben aus der Hand schlägt.

Wie aber gehen Menschen, die derart einen "Risikofaktor" darstellen, mit ihrer eigenen Abnormalität um? Man kann beobachten, dass die "potenziell Kranken" eine virtuelle Gemeinschaft bilden, mit deren Hilfe sie ihre Angst vor der Krankheit, die sie oder ihre Kinder bedroht, begreifen und kontrollieren können. Nicht nur ist jeder von uns für sich genommen ein Risikofall, heißt es nun, sondern unsere ganze erweiterte Familie - eine Familie, die durch die gemeinsame Krankheit definiert und konstruiert wird und alle Opfer umfasst.

Auf den Vorwurf, ein Risiko darzustellen, antworten sie: Aber wir sind nicht allein. Es gibt eine Gemeinschaft der Leidenden, in der wir zu Hause sind. Die Konstruktion einer solchen erweiterten Familie der Leidenden verändert die Bedeutung der Privatsphäre und des "privaten Wissens" grundlegend.

Das lässt sich auch anhand des Komitees zur Verhinderung von Erbkrankheiten (Dor Yershorim) beobachten, das in den USA und in Israel von orthodoxen Juden gegründet wurde. Es bietet anonym durchgeführte genetische Tests auf "jüdische" Krankheiten wie die Tay-Sachs-Krankheit und die Mukoviszidose für Braut und Bräutigam vor Abschluss des Ehevertrags an.

Ein anderes, historisches Beispiel ist die Diabetes. Sie galt im 19. Jahrhundert als typisch "jüdische" Krankheit. Auch hier lässt sich die Wechselwirkung von Stigmatisierung und Solidarität beobachten. Im 19. Jahrhundert diente die Bezeichnung von Schwarzen und Juden als "diabetische" Rasse dazu, diese Gruppen als minderwertig abzustempeln.

So sprach der Pariser Neurologe Jean Martin Charcot im Herbst 1888 gegenüber Sigmund Freud von der Prädisposition der Juden für spezifische Krankheiten, darunter die Diabetes, weil Juden immer untereinander heirateten. Dieser jüdische "Inzest" hinterließ nach Ansicht solcher Mediziner also nicht nur in der jüdischen Seele seine Spuren, sondern auch im jüdischen Körper, ein Mal in Gestalt der Zuckerkrankheit.

Wie reagierten darauf die Juden im 19. Jahrhundert? Noch an der Jahrhundertwende akzeptierten deutsch-jüdische Wissenschaftler wie Felix Theilhaber die Zuckerkrankheit als Rassenstigma. Andere jüdische Wissenschaftler, so etwa Joseph Jacobs, sahen sie als Ergebnis der sozialen und wirtschaftlichen Benachteiligung der Juden. Hämorrhoiden und Diabetes seien "Ergebnis einer sitzenden Tätigkeit". Der amerikanische Arzt Max Fishberg sah, wie Charcot, die Heirat innerhalb der eigenen Gruppe als Ursache. Er schrieb: "Die Juden haben nicht den Vorteil genießen können, reines, frisches, ländliches Blut zur Verjüngung ihres eigenen Blutes heranzuziehen. Infolgedessen sehen wir, dass fast alle Krankheiten, die mit dem Vorrücken der Zivilisation verbunden sind, vor allem Neurosen und Psychosen, aber auch die Zuckerkrankheit, bei Juden häufiger vorkommen als bei Nichtjuden."

Andere Ärzte, so Arnold Pollatschek, der 1902 als Kurarzt in Karlsbad tätig war, sahen die Neigung zur Zuckerkrankheit lediglich als Kunstprodukt an, Ergebnis der jüdischen Hypochondrie und ihrer Finanzkraft, die es ihnen ermöglichte, für eine entsprechende Diagnose und Behandlung auch zu bezahlen. Die virtuelle Gemeinschaft der zuckerkranken Juden, wie die heutige Vorstellung einer erweiterten "Familie" der Leidenden, verschiebt die Verantwortung für eine Krankheit auf eine überindividuelle Ebene.

So wurde im 19. Jahrhundert der "kranke Jude" als Teil einer kranken Gemeinschaft gesehen. Innerhalb der jüdischen Gemeinden des Westens führte das zur Gründung jüdischer Krankenhäuser, wo jüdische Patienten angemessene Behandlung erhielten und jüdische Ärzte forschen und heilen konnten. An diesen Stätten wurden vor allem Krankheiten behandelt, die als Krankheiten der Gemeinde, nicht nur des Individuums, angesehen wurden.

Wir wissen heute, dass die Zuckerkrankheit sowohl vererbt als auch Ergebnis einer bestimmten Lebensweise sein kann. Neue Arbeiten legen die Vermutung nahe, dass kulturelle Faktoren ausschlaggebend sind. Bei jemenitischen Juden, die aus einer Gegend kamen, wo kein Zucker konsumiert wurde, stellte man in Israel eine Zunahme der Diabetes-Fälle fest. Der Grund für das Auftauchen der Krankheit war die Veränderung ihrer Essgewohnheiten, darunter der Zuckerkonsum, sowie eine allgemeine Gewichtszunahme - und nicht die Tatsache, dass es sich um "Juden" handelte. Verantwortlich war mithin der Eintritt einer Gruppe in die durch eine Fülle glukosereicher Nahrung geprägte "moderne" Welt, nicht eine erbliche Vorbelastung.

In dem Maße aber, wie mit Hilfe der modernen Genetik bei anderen Krankheiten neue Risikofälle bestimmt werden, werden traditionelle Vorstellungen von Opfergruppen wieder virulent. Dabei bildet das Modell der Unterstützergruppe, der Betroffeneninitiative, der "therapeutischen Gemeinschaft" oder der Familie der Leidenden einen analogen Ausdruck für den Wunsch des Individuums, sich und seine Kinder in einen größeren Kontext zu stellen, den Status eines kranken Individuums zu transzendieren. Solche Modelle tragen dazu bei, die Sphäre des Privaten und Familiären aufzuheben und die Krankheit mitsamt dem Wissen darum zu vergesellschaften.

Sander Gilman, Jahrgang 1944, ist Professor für Kulturwissenschaften, Medizin, vergleichende Literaturwissenschaft und Psychiatrie an der University of Illinois in Chicago.


Quelle: welt.de